„4 Sprachen + 2 Länder = 1 Sendung“ – unter diesem Titel haben taube und hörende Jugendliche aus Berlin und dem russischen Wolgograd einen Film produziert zu Fragen wie „In welcher (Um-) Welt leben wir eigentlich?“, „Wie funktioniert Teilhabe aller in einer Gesellschaft?“ und „Was kann man tun gegen Ausgrenzung?“. Dabei richtete sich der Blick der Teilnehmer sowohl in die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart. Entstanden ist eine Art Nachrichtensendung, die verschiedene Aspekte der deutschen und russischen Geschichte zum Thema Diskriminierung reflektiert, aus dem Alltag der Teilnehmer berichtet und zwei deutsch-russische Kurzfilme in Gebärdensprache zeigt. Organisiert wurde das Projekt von Sinneswandel – Förderung gehörloser und hörgeschädigter Menschen in Berlin gGmbH in Kooperation mit den drei Wolgograder Partnern: Allgemeinbildende Schule Nr. 92, Internatsschule für gehörlose und hörgeschädigte Kinder Nr. 7 und dem gemeinnützigen Verein „Klub UNESCO-Würde des Kindes“. Die Projektkonzeption und -leitung lag bei Anne-Kathrin Topp und Ragna Vogel.
Bei dem von der » Doris-Wuppermann-Stiftung und der » Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ im Programm » EUROPEANS FOR PEACE geförderten Projekt kam zunächst eine Gruppe russischer Jugendliche nach Berlin. Gemeinsam mit den deutschen Jugendlichen erwartete die teils hörenden, teils tauben Gäste zwischen 13 und 18 Jahren aus Wolgograd vom 1. bis 5. Oktober ein tolles Programm in der deutschen Hauptstadt. „An dem Tag, als die russischen Jugendlichen endlich in Berlin ankommen sollten, waren wir alle sehr aufgeregt und freuten uns darauf, andere junge Menschen und eine andere Kultur kennenzulernen“, sagt Miriam Hörterer, Mitarbeiterin des Kinder- und Jugendclubs der Sinneswandel gGmbH und eine der Betreuerinnen des Projekts. Nach einer Kennenlernrunde und einem Schnupperkurs in russischer Gebärdensprache standen Workshops zum Nationalsozialismus, themenbezogenen Exkursionen sowie gemeinsame Freizeitaktivitäten auf dem Programm. Ab dem zweiten Tag stiegen die Jugendlichen mit der Arbeit voll ein: Die Kamera wurde ausprobiert, mögliche Themen und Fragen für den Film besprochen, Interviews eingesprochen und Filmaufnahmen gemacht. Während des gesamten Projekts lag der Fokus darauf, gemeinsam aus der Geschichte zu lernen, die Lebensrealität der anderen Gruppenteilnehmer/innen besser kennenzulernen und sich auf diese einzulassen. Dabei stand die Frage nach Formen der Diskriminierung und den eigenen Erfahrungen der Teilnehmer/innen im Mittelpunkt, aber auch die Diskussion, was die Jugendlichen selbst für eine gleichberechtigte und gleichwertige Teilnahme aller Mitglieder einer Gruppe tun sollten und welche Möglichkeiten von Inklusion es bereits gibt. Die Gruppe machte eine Stadtrundfahrt mit dem Bus 100, besuchte den Reichstag und staunte nicht schlecht, dass der dortige Gebärdensprach-Guide als Video recht gut und vollständig in der Übersetzung war. Die Jugendlichen informierten sich am Mahnmal für die ermordeten Juden und dem dazugehörigen „Ort der Informationen“, mischten sich in die Feierlichkeiten zum 3. Oktober am Brandenburger Tor, fuhren mit der kürzesten Fähre der Stadt auf die Pfauen-Insel und hatten die Kamera immer dabei. Die Aufnahmen der ersten Projektwoche konnten sich am Ende bereits sehen lassen und wurden am letzten Abend bei Stockbrot am Lagerfeuer in der Jugendherberge am kleinen Wannsee gefeiert.
In der Woche vom 26. Oktober bis 2. November flogen die Berliner Jugendlichen nach Moskau. „Herzlich Willkommen in Moskau. Jetzt müssen wir nur noch 14 Stunden bis Wolgograd fahren“, lautete die Begrüßung am Flughafen für die deutschen Gäste. Und so machte sich die deutsche Gruppe in Begleitung von Miriam Hörterer vom Kinder- und Jugendclub und Anne-Kathrin Topp mit dem Nachtbus auf den Weg in die südrussische Stadt am Fluß Wolga, die ehemalige Stadt Stalingrad. Die Wiedersehensfreude auf beiden Seiten am kommenden Tag war groß, kleine Geschenke wurden ausgetauscht, die neusten Fotos auf Facebook gestellt und die Stimmung war gleich wieder gut, so dass das Projekt problemlos weitergehen konnte. Die Projektwoche in Wolgograd hatte einen nicht weniger vollgepackten Programmplan. Das Team des Wolgograder Schulfernsehens der Schule Nr. 92 hatte sich in der Zwischenzeit einige Gedanken gemacht, wie der von den Jugendlichen selbst produzierte Dokumentarfilm in vier Sprachen (Deutsch, Russisch und russische/ deutsche Gebärdensprache) weitergehen könnte und stellte zwei Drehbücher vor: Das eine handelte von einem gehörlosen Jugendlichen, der gern Pilot werden wollte, das andere von einer Liebesgeschichte eines hörenden und tauben Pärchens, welche leider kein Happy End haben sollte. Vor und hinter der Kamera waren natürlich die Teilnehmer/innen selbst. Schnell einigte sich die Gruppe darauf, beide Filme in einer Woche schaffen zu wollen und legte mit der Arbeit los. Trotz der Sprachhürden, nicht enden wollenden Drehmomente und kleiner Anpassungen im Drehbuch schaffte das Team gleich zwei Premieren: zwei Kurzfilme in deutscher und russischer Gebärdensprache. In Workshops widmeten sie sich die Teilnehmer/innen Fragen wie: „Wann ist ein Mensch gerecht?“, „Welche Würde hat der Mensch?“ oder „Was ist menschliche Würde?“. Außerdem fand eine Talk Show mit russischen Gästen aus dem gesellschaftlichen Leben und der Gehörlosengemeinschaft statt – mit Andrei, dem hörgeschädigten Profifußballer mit zig Medaillenauszeichnungen, Grischa, dem tauben Pantomineschauspieler und Andrei Bykow, dem verdienten Vorsitzenden des Gehörlosenverbandes in Wolgograd, der sich seit über 30 Jahren für die Rechte und Teilhabe von hörgeschädigten und tauben Menschen einsetzt. Von ihm erfuhren die Jugendlichen, dass man in Russland jetzt auch mehr Inklusionsschulen für taube und hörgeschädigte Schüler einrichten wolle. An der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wird sowohl in Russland als auch in Deutschland gearbeitet. Am letzten Tag fand eine große Projektpräsentation vor Schülern der zwei russischen Partnerschulen statt, Kommunalpolitiker gaben sich die Ehre und viele Eltern und Geschwister saßen in der Schulaula und verfolgten die erste Vorführung verschiedener Filmsequenzen aus Berlin und Wolgograd.
Für alle Jugendlichen war es ein einmaliges Erlebnis, an diesem Austausch teilzunehmen. Die weite Reise und die vielen spannenden Erfahrungen im Ausland werden ihnen noch lange im Gedächtnis bleiben. Viele der Jugendlichen haben neue Freundschaften geknüpft und halten per Facebook und E-Mail den Kontakt zu den russischen Teilnehmer/innen. Anfang 2014 wird es im Kinder- und Jugendclub der Sinneswandel gGmbH einen Abschlussabend geben, in dessen Rahmen der fertige Film gezeigt wird und zu der die Projektgruppe alle Interessierten zum gegebenen Zeitpunkt herzlich einladen wird.
Bilder der Jugendlichen in Aktion in Berlin und Wolgograd finden Sie in unserer » Galerie